Nerdfee


Wolfenstein Youngblood

Oder: Alleine sein war selten so deprimierend

Aus einem Kassettenrekorder erklingt eine eingängige Synthie-Pop-Melodie, welche an die 80er-Jahre erinnert. Eine liebliche Stimme säuselt Worte. Mir wird ganz warm, weil es so wunderschön klingt. Doch bei näherem Hinhören weiten sich meine Augen und mein Mund klappt auf, denn das Popmusikstück ist reine Nazi-Propaganda. Wütend und peinlich berührt ziehe ich meine Waffe und schieße wie irre auf die Nazis, welche gerade in meine Richtung maschieren.

But wait.. Nazis? In den 80ern? Popmusik? Welchen Film schiebt die Nerdfee wieder?!

Kein Film, es hat ein Game. „Wolfenstein“ ist eine Videospielreihe, die eine alternative Zeitgeschichte als Story beinhaltet. Darin wurde der Zweite Weltkrieg von den Alliierten nicht gewonnen, sondern die Nazis konnten die Weltherrschaft erreichen und festigen. Doch nicht nur Europa, sondern auch Amerika wurde erobert. Die Nationalsozialisten verfügen hier über unglaublich starke Waffen. Maschinen-Mensch-Kreuzungen, große Roboter-Köter, und andere abgefahrene Kreaturen haben zum Endsieg verholfen.

Im jüngsten Videospiel „Wolfenstein: Youngblood“ befinden wir uns nun im Jahr 1980. Zwar wurde Nordamerika vom Nazi-Joch mittlerweile befreit, aber Europa ist immer noch fest in braunen Händen.
„Youngblood“ spielt zwanzig Jahre nach dem letzten Spiel „The New Colossus“. Killermaschine und mittlerweile amerikanischer Volksheld B.J. Blazkowicz ist älter geworden und kann es sich im befreiten Nordamerika eigentlich gemütlich machen, aber etwas zieht ihn ins besetzte Paris, wo die Nazis immer noch wüten. Doch Blazkowicz verschwindet in der Stadt spurlos und seine Familie macht sich Sorgen. Kurzerhand entschliessen sich seine Zwillingstöchter Jess und Soph, den Papi in Europa selber zu suchen. Also reisen sie in die ehemalige Stadt der Liebe, um dort den Nazis in einem futuristischen Kampfanzug mit Unsichtbarkeitsfunktion ordentlich in den Arsch zu treten.

Dieser neue Egoshooter ist klar auf einen Zweispielermodus ausgelegt.
Wenn ich alleine ins Gefecht ziehe, übernimmt eine KI den Part meiner Mitstreiterin. Zu Beginn darf man eine der Zwillingsschwestern auswählen. Die Fähigkeiten sind jedoch fast gleich. Im Solo-Modus geht selbstredend viel von der Zweispielerdynamik verloren. Die taktische Komponente existiert nicht, das Absprechen untereinander entfällt und was besonders auffällt ist der KI-Egoismus: Kurz vor dem Ableben kann es schon mal zur Glücksache werden, ob die KI rechtzeitig oder überhaupt vor einem auftaucht, um zu helfen. Da ist das Vertrauen im aktiven Zweispielermodus schon viel grösser.
Wer alleine spielt und eine packende Geschichte erleben möchte, wird bitter enttäuscht. Man hier keine Wahnsinns-Story, wie beim Vorgänger, abliefern würde und klar auf den Zweispielermodus setzt, haben sogar schon die Entwickler im Voraus kundgetan. Dass man aber eine solch blutleere Story serviert bekommt, ist dann doch erstaunlich.
Die Charaktere bleiben blass, es gibt kaum Szenen, die lange in Erinnerungen bleiben und der Oberbösewicht kommt direkt von der Stange. Auch die beiden Zwillingsschwestern bleiben weit hinter ihren charakterlichen Möglichkeiten. Zwar macht es Spass den beiden zuzuhören und den teilweise gelungenen, dreckigen Dialogen zu lauschen, aber die Kernigkeit ihres Vaters besitzen sie nicht.
Trotz schwacher Story handelt es sich um einen technisch durchaus gelungenen Shooter. Wer die Vorgänger kennt, wird sich sofort heimisch fühlen. Waffen und Ausrüstung können gegen eingesammelte Münzen verbessert werden, man levelt sich mit Erfahrungspunkten hoch, was in einigen knackigen Abschnitten fast zum Zwang wird, und sammelt fleissig Lektüre, um sich mehr in die Hintergründe hineinzulesen.

Und wie gewohnt haben sich die Macher beim Artdesign schön schaurig ausgetobt. Wenn man wieder die gewohnt sarkastischen Werbebilder von Nazi-Produkten erblickt, krude Nazi-Filmplakate entdeckt oder generell über eine übertriebene faschistische Architektur stolpert, beginnt das Staunen über die braune Fantasie der Entwickler.
Wer übrigens die internationale Version kauft, wird mit Hakenkreuzen und anderen faschistischen Symbolen nur so zugeballert. Die deutsche Fassung, die wir testen durften, kommt ohne aus. Allerdings werden hier zum ersten Mal die Nazis bewusst genannt und nicht immer in „Das Regime“ umgewandelt.

Aber leider: Wer solo unterwegs ist und die Erwartungshaltung an eine packende Geschichte herunterschraubt, wird mit dem neuen «Wolfenstein»-Shooter seinen kurzweiligen Spass haben. Wer alle Haupt- und Nebenmissionen brav erfüllt, kann mehr als 20 Stunden vor dem Bildschirm verbringen. Die Spassgranate zündet jedoch erst richtig im Zweispielermodus, wenn die taktische Komponente ins Spiel kommt und man zu zweit haufenweise Nazis aus dem Weg ballern darf.